PKW-Fahrdynamikreglerentwicklung mittels Zustandsraummodell am Beispiel eines 4WS-Prototypen
Dipl. Ing. Alfred Pruckner
Dipl. Ing. Francis Noutsa Noufele
Sven Fischer
Mustapha Khajjou
Institut für Kraftfahrwesen Aachen
RWTH Aachen
Einführung
Fahrzustandserkennung
Fahrzustandsregelung
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
Einführung
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Möglichkeit der 
Fahrzustandsbeobachtung und darauf aufbauend der Fahrzustandsregelung 
mittels nichtlinearem Zweispurmodell mit Zustandsrückführung.
Die Entwicklung der Beobachter- und Reglerstruktur basiert auf dem 
sogenannten 'Virtuellen Prototyping', welches die Verbindung von 
Mehrkörperdynamiksimulationsprogramm (MKS) und Regelungstechnik Software
 Tool (RTS) darstellt. Das MKS Modell ersetzt darin die realen 
Fahrversuche auf der Teststrecke und liefert so den Input für die 
Software, welche als automatisch generierter C-Code aus dem RST erzeugt 
wird.
In einer Weiterentwicklung des 'Virtuellen Prototyping' wird am Institut
 für Kraftfahrwesen das 'Software Rapid Prototyping' entwickelt, welches
 die Benützung des automatisch generierten C-Codes auf beliebigen 
Steuerelektroniken ermöglicht, um so eine schnelle und effiziente 
Verbindung zu realen Fahrversuchen auf der Teststrecke zu gewährleisten.
Der in diesem Beitrag entwickelte Fahrzustandsbeobachter zur Erfassung 
des Fahrzeugschwimmwinkels wurde mittels 'Virtuellem Prototyping' 
entwickelt, die Güte der Schwimmwinkelerkennung wird mit den Ergebnissen
 eines Einspurmodells verglichen.
Die Darstellung des Fahrzeugverhaltens durch ein Zustandsraummodell 
ermöglicht schließlich mit den Hilfsmitteln der Regelungstechnik eine 
optimierte Regelung des Fahrzeugverhaltens, was wiederum im Vergleich 
mit bisher üblichen Einspurfahrzeugmodell-Regelungen gezeigt wird.
Fahrzustandserkennung
Heute übliche Fahrzustandserkennung basiert auf dem sogenannten 
Einspurmodell. In diesem Fahrzeugmodell wird eine lineare 
Reifencharakteristik angenommen, außerdem wird die Schwerpunkthöhe zu 
null gesetzt, weshalb die Räder einer Achse auf ein Rad reduziert werden
 können.
Abb.1: Lineares Einspurmodell
Mit diesen Annahmen sowie der weiteren Vereinfachung von kleinen Winkeln
 lassen sich die Fahrzustandsgrößen Schwimmwinkel b und 
Gierwinkelgeschwindigkeit 

 als Differentialgleichungen abhängig von verschiedenen 
Fahrzeugparametern sowie der Fahrzeuggeschwindigkeit und dem vorderen 
bzw., wenn vorhanden, dem hinteren Lenkwinkel darstellen.
Gl. 1
Diese Differentialgleichungen lassen sich auch in Form einer in der 
Regelungstechnik üblichen Zustandsraumgleichung darstellen (Gl. 2), 
wobei x den Zustandsvektor (Schwimmwinkel und 
Gierwinkelgeschwindigkeit), u den Eingangsvektor (vorderer und hinterer 
Lenkwinkel), A die Systemmatrix und B die Eingangsmatrix bezeichnt.
Mit einer für die Erstellung von automatischem C-Code notwendigen 
Diskretisierung (Gl. 4 & Gl. 5) kann diese Zustandsraumdarstellung 
im RTS Programm MATRIXx abgebildet werden.
Gl. 2
Gl. 3
Gl. 4
Abb.2: MATRIXx Modell des diskreten, linearen Einspurmodells
Mit Hilfe des 'Virtuellen Prototypings' wird aus dem erstellten 
Einspurmodell automatisch C-Code generiert, welcher in einer 
ADAMS-Simulation mit den Messdaten aus dem Fahrzeugmodell beschickt wird
 und die Beobachteten Größen bzw. die Stellgröße für eine eventuelle 
Regelung an das Modell zurück liefert.
Abb.3: Virtuelles Prototyping
Mit dieser Methode ist ein Vergleich der tatsächlich auftretenden 
Zustandsgrößen aus dem MKS Programm ADAMS mit den geschätzten 
Einspurmodelldaten sehr schnell und flexibel gestaltbar.
Die folgende Abb. zeigt den Vergleich der beobachteten Zustandsgrößen 
und der 'realen' Simulationswerte aus ADAMS. Auf trockener Fahrbahn 
genügt das Einspurmodell den nötigen Anforderungen, auf glatter Fahrbahn
 jedoch versagt das lineare Einspurmodell aufgrund der 
Modellvereinfachungen (Abb.
Abb.4: Zustandsgrößenbeobachtung, doppelter Fahrspurwechsel, trockene Fahrbahn
Abb.5: Zustandsgrößenbeobachtung, doppelter Fahrspurwechsel, glatte Fahrbahn
Zur Verbesserung der Zustandsbeobachtung wird ein Zweispurmodell mit 
integriertem HSRI-Reifenmodell verwendet, welches die aktuelle 
Schräglaufsteifigkeit aus den vorliegenden Messgrößen anpasst. Darüber 
hinaus wird der aktuelle Straßenreibwert aus den Reifenkräften des 
HSRI-Modells im Vergleich mit den tatsächlichen Kräften geschätzt und 
schließlich eine Rückführung der Zustandsgrößen ähnlich dem linearen 
Luenbergerbeobachters integriert (Abb.).
Abb.6: Nichtlineare Fahrzustandsbeobachtung
Die geschätzten Zustandsgrößen des nichtlinearen Fahrzeugmodells 

 können sowohl von den Zustandsgrößen als auch von den Eingangsgrößen u 
nichtlinear abhängen. Aus den geschätzten Zustandsgrößen können mit 
Hilfe der Messgleichung C die geschätzten Messgrößen 

 berechnet werden und mit den realen Messwerten y über die Matrix L 
abgeglichen werden. Abb. zeigt den prinzipiellen Zusammenhang der 
nichtlinearen Zustandsraumbeobachtung.
Da die Zustandsgrößen nicht exakt vorliegen, wird die 
Zustandsraumgleichung und die Messgleichung um die geschätzten Größen 
linearisiert:
Gl. 5
Gl. 6
Von dieser linearisierten Zustandsraumdarstellung wird die geschätzte 
Zustandsraumgleichung sowie der Abgleich aus den Messgrößen abgezogen,
Gl. 7
so dass nach Einsetzen der Messgleichung eine Differentialgleichung für den Schätzfehler 

 entsteht. Die Matrix 

 bezeichnet die sogenannte Jakobi-Matrix des Systems:
Gl. 8
Diese Differentialgleichung F des Schätzfehlers soll möglichst rasch mit
 abklingendem Verhalten gegen Null gehen, was mit der Wahl negativer 
Eigenwerten l im kontinuierlichen Fall bzw. mit Eigenwerten innerhalb 
des Einheitskreises im diskreten Fall gegeben ist.
Gl. 9
D.h. durch die Wahl der Eigenwerte der vorliegenden 
Differentialgleichung können mittels Koeffizientenvergleich die 
Matrizenelemente l der Korrekturmatrix L in jedem Berechnungsschritt 
berechnet werden, um so den Schätzfehler möglichst klein werden zu 
lassen und die Zustandsgrößen möglichst exakt zu bestimmen. Die folgende
 Abb. zeigt einen Vergleich der Güte des Beobachtermodells mit dem zuvor
 gezeigten Einspurmodell.
Abb. 7: Zustandsgrößenbeobachtung, doppelter Fahrspurwechsel, glatte Fahrbahn
Um den vorhandenen Zustandsraumbeobachter auch im realen Fahrbetrieb 
flexibel und effizient einsetzen zu können, wird mittels 'Software Rapid
 Prototyping' der erzeugte C-Code direkt in einen handelsüblichen 
Steuerrechner auf Basis eines C-167 µ-Controllers implementiert. Die 
Messdaten für den Zustandsraumbeobachter wird nun direkt aus dem 
Testfahrzeug mittels geeigneter Sensorik erfasst, die beobachteten 
Größen werden mit Hilfe eines Messrechners aufgezeichnet.
Abb.8: Software Rapid Prototyping
Abb. zeigt das Ergebnis eines Sinuslenkmanövers auf trockener Fahrbahn 
im Vergleich zum Einspurmodell und einem Zweispurmodell ohne 
Zustandsgrößenrückführung. Deutlich ist die Verbesserung der Beobachtung
 durch das Zustandsraummodell zu erkennen, für weitere 
Verbesserungsdarstellungen sind Fahrversuche auf glatter Fahrbahn noch 
durchzuführen.
Abb. 9: Software Rapid Prototyping, Schwimmwinkelbeobachtung
Fahrzustandsregelung
Aus dem vorliegenden Zustandsraummodell ist mit den Mitteln der 
Regelungstechnik eine geeignete Zustandsgrößenregelung machbar. Dazu 
wird  ein optimaler Zustandsregler ausgewählt, da er gute 
Dämpfungseigenschaften besitzt und mit Hilfe des Algorithmus des 
Kalman-Filters auch auf zeitvariante Prozesse übertragen werden kann.
Zunächst wird die vorliegende nichtlineare Zustansraumgleichung um den aktuellen Arbeitspunkt linearisiert bzw. diskretisiert
Gl. 11
Gl. 12
Der Regler wird dabei so gewählt, dass er optimal im Sinne eines 
definierten Gütefunktionals ist. Daraus erhält man einen linearen, 
zeitvarianten Regler mit folgender Struktur:
Abb.10: Fahrzustandsregelung
D.h., es muss eine geeignete Rückführmatrix K gefunden werden, welche 
aus der Differenz der Soll- und Ist- Zustandsgröße die optimale 
Stellgröße, im vorliegenden Fall der hintere Lenkwinkel, berechnet.
Das Gütekriterium führt auf die Riccati-Gleichung, aus deren Lösung sich
 die Rückführmatrix bestimmen lässt. Dafür wurde der Algorithmus zur 
Berechnung des Kalman-Filters gewählt, was aufgrund der Symmetrie des 
Reglers- und Beobachterproblems zulässig ist.
Der Algorithmus lautet:
Gl. 13
Gl. 14
Gl. 15
mit Q und R als wählbare Gewichtungsmatrizen.
Aus dem Algorithmus folgt für jeden Berechnungsschritt die 
Rückführmatrix K, welche die Stellgröße (hinterer Lenkwinkel) bestimmt. 
Die Ergebnisse dieser Zustandsregelung zeigt das folgende simulierte 
Fahrmanöver eines doppelten Fahrspurwechsels auf glatter Fahrbahn. Das 
ungeregelte Fahrzeug schleudert durch das Manöver was an dem großen 
vorderen Lenkwinkel und der Fahrspur (Abb. 11) sowie dem Schwimmwinkel 
(Abb. 12) zu erkennen ist. 
Abb.11: Fahrzustandsregelung, Lenkwinkel vorne und Fahrspur, doppelter Fahrspurwechsel, glatt
Das Fahrzeug mit der Zustandsraumregelung schafft den Fahrspurwechsel 
erwartungsgemäß besser, was an der besseren Erkennung des aktuellen 
Fahrzustandes und der optimalen Regelung liegt. Wahrend das Fahrzeug mit
 einer gewöhnlichen Einspurmodellregelung den Schwimmwinkel des 
Einspurmodells möglichst gering hält, wächst der reale Schwimmwinkel 
stärker an als im Fall der Zustandsraumregelung, wo der besser 
beobachtete Schwimmwinkel gegen Null geregelt wird (Abb. 13).
Abb.12: Fahrzustandsregelung, Schwimmwinkel und Lenkwinkel hinten, doppelter Fahrspurwechsel, glatt
Abb.13: Fahrzustandsregelung, Schwimmwinkel Einspurmodell und beobachtet, doppelter Fahrspurwechsel, glatt
Prinzipiell kann mit dem gezeigten Zustandsraumregler jede Stellgröße, 
welche in den Zustandsgleichungen eingebracht werden kann, zur Regelung 
herangezogen werden. So könnte auch z.B. ein zusätzlicher vorderer 
Lenkwinkel zur Fahrzeugstabilisierung genutzt werden. Durch eine 
Formulierung der Reifenlängskräfte in Abhängigkeit des Längsschlupfes 
und dessen Einfluss auf die Seitenkräfte könnte auch eine Regelung der 
Gierwinkelgeschwindigkeit mittels Bremseingriff in Kombination mit 
stabilisierendem Lenkeingriff an Vorder- und/oder Hinterachse vorgesehen
 werden.
Zusammenfassung und Ausblick
Die gezeigte Zustandsraumbeobachtung eines Fahrzeuges erlaubt mit den 
vorhandenen Messgrößen eines Fahrzeuges den Schwimmwinkel in 
Grenzbereichen, wo das lineare Einspurmodell versagt, sehr genau zu 
erfassen. Diese Fahrzustandsbeobachtung stellt eine kostengünstige 
Alternative zu aufwendiger Sensorik dar und erlaubt den Schritt zu 
integrierter Fahrzustandsregelung, welche verschiedene Anforderungen 
einer Fahrzeugregelung unter regelungstechnischen Gesichtspunkten 
aufstellen lässt.
Die Methode des 'Virtuellen Prototypings' stellt dabei im Zusammenspiel 
mit dem 'Software Rapid Prototyping' eine schnelle und flexible 
Möglichkeit dar, verschieden komplexe Ansätze zu realisieren, 
analysieren und zu optimieren. Das Zusammenspiel der einzelnen Systeme 
kann jederzeit sowohl simulationstechnisch als auch darauf aufbauend auf
 der Teststrecke nachvollzogen werden. Der Einsatz handelsüblicher 
Steuerrechner ermöglicht zudem realitätsnähere Testbedingungen für 
Software und Elektronik-Hardware.
Die gezeigte Methode der Hinterradlenkregelung wird derzeit am Institut 
für Kraftfahrwesen in einem Prototypenfahrzeug installiert und in naher 
Zukunft für verschiedene Anforderungen und verschiedenen 
Straßenzuständen getestet.
Literatur
[ADA94]      N.N.
ADAMS / Solver - Reference Manual, Version 8.0
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Ann Arbor, Michigan, 2. Auflage 1994
 [DIE91]      DIEKMANN, T.
Ein neuartiger Ansatz zur Bestimmung der Kraftschlußbedingungen im Reifen/Fahrbahn-Kontakt
3. VDI- Fachtagung Reifen- Fahrwerk- Fahrbahn, Hannover, 1991
[FÖL93]      FÖLLINGER, OTTO
Nichtlineare Regelungen II
R.Oldenbourg Verlag
München, Wien, 7. Auflage 1993
[ISE92]       ISERMANN, R.
Identifikation dynamischer Systeme
Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, London, Paris, Tokio, 2. Auflage 1992
[KOR94]     KORTÜM, W., LUGNER, P.
Systemdynamik und Regelung von Kraftfahrzeugen
Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 1994
[PRU97]     PRUCKNER, A.
Analysis of Dynamic Driving Control (DDC) Systems on a full vehicle Model in ADAMS, ADAMS Users Conference, Marburg 1997
[PRU98]     PRUCKNER, A.
Virtuelles Prototyping zur Entwicklung von Fahrwerkregelungssystemen mit ADAMS und MATRIXx, 7. Aachener Kolloquium, Aachen 1998
[WAL96]     WALLENTOWITZ, H.
Vertikal-/Querdynamik von Kraftfahrzeugen
Umdruck zur Vorlesung 'Kraftfahrzeuge II'
Institut für Kraftfahrwesen, RWTH Aachen, Aachen, 1996